19.04.2023 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Das trifft auf Betriebe zu, die sich hinsichtlich der Betriebsgröße, des Wirtschaftszweiges, der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten und des Standes ihrer technischen Anlagen nicht voneinander unterscheiden. In Zeiten stark steigender Lebenshaltungskosten verfügen Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben deswegen eher über ein kleines finanzielles Polster. Dies ist das Ergebnis einer neuen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, in der die Entwicklung der Tarifbindung in Deutschland anhand neuer Daten aus dem repräsentativen IAB-Betriebspanel untersucht wird.
Die Studie dokumentiert damit, dass der deutliche Rückgang der Tarifbindung seit der Jahrtausendwende negative Konsequenzen für die Beschäftigten und die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten hat. Indirekt wirkt sich das auch auf die Einnahmen von Sozialversicherungen und öffentlicher Hand aus. Während im Jahr 2000 noch mehr als zwei Drittel der Beschäftigten (68 Prozent) in Deutschland in tarifgebundenen Betrieben beschäftigt waren, lag dieser Anteil 2021 nur noch bei gut der Hälfte (52 Prozent). Innerhalb Deutschlands gibt es dabei ein deutliches West Ost-Gefälle: So lag der Anteil der tarifgebundenen Arbeitsplätze in Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen nach den jüngsten verfügbaren Zahlen noch zwischen 59 und 55 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Brandenburg und Thüringen kommen hingegen nur noch auf einen Anteil von 41 bis 46 Prozent tarifgebundener Arbeitsplätze. In den restlichen Bundesländern liegt die Tarifbindung bei 47 bis 53 Prozent. Die Bundesregierung muss nach EU-Recht einen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung vorlegen. Das sollte sie rasch tun, wirksame gesetzliche Instrumente dafür seien seit langem bekannt, analysieren die Studienautoren Dr. Malte Lübker und Prof. Dr. Thorsten Schulten.
Bei den Löhnen ist der Rückstand der tariflosen Betriebe insbesondere in Ostdeutschland sehr ausgeprägt. In Brandenburg verdienen Beschäftigte in tariflosen Betrieben rund 15 Prozent weniger als jene in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag, in Sachsen-Anhalt beträgt der Rückstand 14 Prozent. Um auf ein volles Jahresgehalt ihrer Kolleg*innen mit Tarifvertrag zu kommen, müssen Beschäftigte in tariflosen Betrieben hier also bis in den März des Folgejahres hineinarbeiten.
Bei der Arbeitszeit sind hingen die die Unterschiede in Westdeutschland besonders eklatant. Die Gewerkschaften haben hier bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren deutliche Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen können, die freilich nur auf tarifgebundene Betriebe Anwendung finden. Am größten ist die Differenz in Baden-Württemberg, wo Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Unternehmen regulär fast anderthalb Stunden (87 Minuten) pro Woche zusätzlich arbeiten. In Bremen (61 Minuten) und dem Saarland (60 Minuten) sind es jeweils etwa eine Stunde. Über das Jahr gesehen entspricht dies mehr als einer zusätzlichen Arbeitswoche.
„Die Ergebnisse belegen erneut, dass Tarifverträge für die Beschäftigten handfeste Vorteile bringen“, sagt Dr. Malte Lübker, Co-Autor der Studie und Referatsleiter für Tarif- und Einkommensanalysen am WSI. „Es lohnt sich deshalb, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen für einen Tarifvertrag zu kämpfen – auch wenn der Weg dahin oft nicht einfach ist.“ Die sich verschärfenden Fachkräfteengpässe am Arbeitsmarkt machen Tarifbindung jedoch auch für Arbeitgeber zunehmend attraktiv. „Wer als Arbeitgeber tarifgebunden ist, bekennt sich klar zu fairen Löhnen und geregelten Arbeitsbedingungen“, so Lübker. „Das macht einen Arbeitgeber für Stellensuchende interessant – und kann die Belegschaft davon abhalten, zur tariftreuen Konkurrenz abzuwandern.“
Starke Gewerkschaften und handlungsfähige Arbeitgeberverbände sind die Grundlage für ein Wiedererstarken der Tarifbindung in Deutschland, resümiert die Studie. Doch auch die Politik kann hierzu einen Beitrag leisten, indem sie die richtigen Rahmenbedingungen setzt. In Nachbarländern wie Belgien, Österreich und Frankreich ist es so gelungen, dass deutlich über 90 Prozent der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt werden. Diese Länder erfüllen damit schon eine tarifvertragliche Abdeckung von mindestens 80 Prozent, die in der neuen Europäischen Mindestlohnrichtlinie als Ziel festgelegt ist. Alle anderen EU-Länder – darunter auch Deutschland – sind nach europäischem Recht künftig verpflichtet, einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung aufzustellen.
Aufgrund der zweijährigen Frist für die Umsetzung der Richtlinie hat Deutschland hierfür bis zum 15. November 2024 Zeit. „So lange sollte die Bundesregierung aber nicht warten. Viele konkrete Maßnahmen, die dieser Aktionsplan enthalten könnte, werden bereits seit einiger Zeit diskutiert“, sagt Lübker. Dazu zählen eine weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von bestehenden Tarifverträgen sowie Tariftreueregelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen.
Weitere Vorschläge finden sich in einem Eckpunktepapier, das Arbeitsminister Hubertus Heil und der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz bereits im März 2021 vorgelegt haben. Hierzu zählt ein bundesweiter Vergabemindestlohn, der für tariftreue Betriebe zusätzlich Schutz vor „Schmutzkonkurrenz“ mit Dumpinglöhnen schaffen würde. Ein weiterer Hebel sind Tariftreueregelungen bei Versorgungsverträgen im Gesundheitswesen und der Pflege. Ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften zu den Betrieben würde es erleichtern, die Beschäftigten zu erreichen und gewerkschaftlich zu organisieren. Für Arbeitgeber könnte ein zusätzlicher Anreiz für eine Tarifbindung entstehen, wenn Abweichungen von tarifdispositivem Gesetzesrecht nur noch für tarifgebundene Arbeitgeber möglich sind.
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