08.01.2024 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Deutschland „hätte damit wirtschaftlich ein verlorenes halbes Jahrzehnt erlebt“ und wichtige Zeit verloren, um Wohlstand und Arbeitsplätze auf dem Weg in eine klimaverträgliche Zukunft zu erhalten, ergibt die neue wirtschaftspolitische Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zum Jahresauftakt. Um das zu verhindern, müsse die Wirtschaftspolitik dringend notwendige Spielräume für Investitionen wiedergewinnen, die sie durch das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom November und die politischen Reaktionen darauf verloren hat. Als beste Lösung für das Problem empfiehlt das IMK eine „Golden Rule“, um künftig Investitionen von der Schuldenbremse auszunehmen. Als zweitbeste Lösung ein kreditfinanziertes Sondervermögen für Transformationsinvestitionen nach dem Vorbild des Sondervermögens Bundeswehr.
Erstens müsse verhindert werden, dass sich die Stagnationstendenzen der deutschen Wirtschaft 2024 fortsetzen und verhärten. So bestehe zum einen das Risiko, dass die privaten Haushalte und Unternehmen wie in den frühen 2000er Jahren in eine „Stagnationserwartung“ verfallen. Diese könne auf längere Zeit die Wirtschaftsdynamik lähmen, etwa weil private Haushalte Käufe und Unternehmen Investitionen aufschieben. Zum anderen könnte der Arbeitsmarkt, der sich über längere Zeit trotz heftiger äußerer Schocks stabil gezeigt hat, „kippen“ und die Arbeitslosigkeit deutlich steigen. Zumindest Vorboten dieser Entwicklung hat das IMK in seiner aktuellen Konjunkturprognose bereits ausgemacht: Das Institut rechnet für 2024 mit 2,85 Millionen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt. Das sind rund 430.000 mehr als noch 2022, die Arbeitslosenquote dürfte in diesem Zeitraum von zwei Jahren von 5,3 auf 6,2 Prozent steigen.
Zweitens müsse die Wirtschaftspolitik mittelfristig einen Rahmen schaffen und der Staat auch eigene Maßnahmen ergreifen, „so dass die anstehende Dekarbonisierung unter Erhalt des deutschen Wohlstands sozial abgefedert und politisch akzeptiert gelingen kann“, schreiben die Forschenden in ihrem Jahresausblick. Der größte Anteil, der für eine sozial-ökologische Transformation und Klimaneutralität bis 2045 notwendigen Investitionen müsse natürlich von Privaten geleistet werden, worunter sowohl Unternehmen fallen als auch private Haushalte. In der aktuellen Situation seien öffentliche Investitionen aber besonders wichtig als „Türöffner“ und teilweise Voraussetzung für private Ausgaben – sei es, weil diese von öffentlichen Infrastrukturen abhängen, sei es, weil Private den Einstieg in neue Techniken als Vorreiter nicht alleine stemmen können.
Neben der Modernisierung und Ertüchtigung traditioneller Infrastruktur, etwa bei Schienen, Fernstraßen, Wasserwegen, und bei Bildungseinrichtungen, sieht das IMK staatlichen Regulierungs-, Investitions- und Unterstützungsbedarf vorrangig an drei Punkten:
Für die Modernisierung und den Ausbau der traditionellen Infrastruktur und des Bildungsbereiches hatte das IMK gemeinsam mit dem Institut der deutschen Wirtschaft bereits 2019 einen zusätzlichen Investitionsbedarf von rund 460 Milliarden Euro über zehn Jahre errechnet. Dieser Bedarf besteht nach Einschätzung von Prof. Dr. Sebastian Dullien, dem wissenschaftlichen Direktor des IMK, dabei weitgehend fort, weil in den vergangenen Jahren nur wenige der damals aufgezeigten Lücken geschlossen worden seien.
2024 sollte das Jahr sein, in dem wir aus der akuten Krise herauskommen. In dem wir die Folgen der Pandemie endgültig hinter uns lassen. Und in dem wir die Lehren aus dem russischen Angriff auf die Ukraine und aus der Energiekrise in die Tat umsetzen, indem wir die sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft forcieren. Stattdessen droht aktuell ein Ausfall der wirtschaftspolitischen Handlungsfähigkeit. Die Ampel- und zuvor die Große Koalition haben seit 2020 sowohl den Corona- als auch den Energiepreisschock erfolgreich abgefedert. Aber mit dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der finanzpolitischen Reaktion darauf, droht die Wirtschaftspolitik jetzt selbst zu einer Belastung für die Wirtschaft zu werden. — Dullien
Das Urteil des Verfassungsgerichts habe zwar vordergründig die umstrittenen Haushaltskonstruktionen der Bundesregierung über umgewidmete Kreditermächtigungen und Sondervermögen wie den Klima- und Transformationsfonds zu Fall gebracht. Es sei aber zu simpel, an diesem Punkt der Analyse stehen zu bleiben, warnt das IMK. „Das Urteil offenbart in Wirklichkeit die eklatanten Schwächen einer Schuldenbremse, die nicht mehr in unsere Zeit passt“, erklärt Ökonom Dullien. Die transformativen Herausforderungen entschlossen anzugehen, sei schließlich kein Partikularinteresse einzelner Koalitionen oder Parteien, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit.
Der Strukturwandel läuft bereits. Er kann unseren Wohlstand stärken, wenn wir ihn gut gestalten Er kann unseren Wohlstand in Gefahr bringen, wenn wir ihn nicht angemessen und ausreichend flankieren. Ersteres kostet jetzt Geld für Investitionen. Letzteres wird die Staatsfinanzen der Zukunft bedrohen. Es wäre absolut widersinnig, wenn ausgerechnet Deutschland, das die niedrigste Staatsverschuldung unter den G7-Ländern hat, nicht genug tut.
Gleiches gelte für die eklatanten Mängel an der bestehenden öffentlichen Infrastruktur in Deutschland etwa im Verkehrs- oder Bildungsbereich. „Auch bei der traditionellen Infrastruktur verhindert die Schuldenbremse nun eine dringend notwendige, entschiedene Investitionswende“, so Dullien.
Als beste Lösung sieht das IMK eine Reform der Schuldenbremse durch eine „Golden Rule“ für Investitionen. Diese würden dann aus den Begrenzungen ausgenommen. Das sei ökonomisch und ethisch sehr gut zu begründen. Schließlich kommen die notwendigen Investitionen nicht nur heutigen Generationen zugute, sondern insbesondere auch künftigen.
„Eine `Golden Rule´ würde eine Verstetigung öffentlicher Investitionen ermöglichen und gleichzeitig eine Überschuldung vermeiden. Die Wirtschaftspolitik sollte sich zeitnah für eine solche Reform einsetzen“, appellieren die Forschenden parteiübergreifend. Doch: „Leider scheinen die politischen Mehrheiten absehbar für eine derartige First-Best-Reform nicht gegeben.“ Eine Second-Best-Lösung wäre für das IMK daher „ein im Grundgesetz verankertes kreditfinanziertes Sondervermögen für die Transformation nach dem Vorbild des Sondervermögens `Bundeswehr´“.
Allerdings wäre auch für diese Lösung eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich. Für den Übergang sei es deshalb völlig gerechtfertigt, wenn der Bundestag erneut für 2024 eine Notsituation erklären würde, um eine Kreditaufnahme jenseits der für Normalzeiten festgelegten 0,35 Prozent des BIP zu ermöglichen.
Der Energiepreisschock nach der russischen Ukraine-Invasion wirkt nach. Inzwischen liegt die Wirtschaftsleistung fast 5 Prozent niedriger, als es allgemein unmittelbar vor der Invasion erwartet worden war. Natürlich ist das weiter eine wirtschaftliche Notsituation. — Dullien
Bild: Jacek Dylag (Unsplash, Unsplash Lizenz)