13.09.2022 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Eine aktuelle wirtschaftspolitische Analyse aus dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung setzt sich mit diesen Herausforderungen auseinander und kommt zu dem Schluss: Nur wenn die EU und ihre Mitgliedsstaaten eine aktivere Industriepolitik vorantreiben, können sie angesichts von Klimawandel, Digitalisierung und Globalisierung bestehen und wichtige Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation schaffen. Das bloße Drängen auf Freihandelsregeln reicht nicht aus.
In einer Welt des multipolaren Wettbewerbs sowie des digitalen und grünen Wandels muss die EU ihre industriepolitische Strategie überdenken. „Mit dem bisherigen industriepolitischen Ansatz wird Europa nicht ausreichend gerüstet sein, um die dreifache Herausforderung von Geopolitik, Digitalisierung und Dekarbonisierung zu bewältigen“, schreiben Prof. Dr. Sebastian Dullien vom IMK und Jonathan Hackenbroich. Der Ökonom und der Experte für Außenpolitik analysieren, wie sich die EU und Deutschland mit Blick auf die kommenden Herausforderungen positionieren sollten. Es reiche nicht aus, sich ausschließlich auf die „Sicherung gleicher Wettbewerbsbedingungen“ und die „Regulierung des Binnenmarktes“ zu konzentrieren.
Der klimagerechte Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft steht erst am Anfang. Neue digitale Technologien werden den Alltag der Menschen bestimmen. Und schon jetzt machen Coronakrise und Ukrainekrieg deutlich, wie schnell globale Lieferketten und internationale Handelsbeziehungen unter Druck geraten können. „Der Einmarsch Russlands in die Ukraine und die gemeinsame Erklärung des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des chinesischen Präsidenten Xi Jinping über eine Neuverteilung der Macht in der Welt haben eine neue Ära in der internationalen Politik eingeläutet“, so die Experten. Die seit dem Ende des Kalten Krieges geltenden Regeln einer unipolaren Welt seien außer Kraft gesetzt. Auch im Welthandel dominierten zunehmend machtpolitische Interessen. Sowohl die USA als auch China nutzten ihre wirtschaftliche Stärke dazu, ihren geopolitischen Einfluss zu vergrößern.
Eine besondere Rolle spielen dabei Schlüsselindustrien oder Technologie-Netzwerke. Diese zeichnen sich Dullien und Hackenbroich zufolge dadurch aus, dass sie besonders stark über Lieferbeziehungen mit anderen Teilen der Wirtschaft verflochten sind und für die nächsten großen Innovationen von zentraler Bedeutung sind – auch weit über die jeweilige Branche hinaus. Das gelte etwa für die großen Digitalkonzerne, die hauptsächlich außerhalb Europas entstanden sind. Diese Unternehmen hätten Pionierarbeit geleistet und profitierten nun von erheblichen „Skalen- und Netzwerkeffekten“: an ihren Produkten kommt weltweit kaum jemand vorbei und digitalisierte Märkte tendieren in Richtung monopolistischer Strukturen.
Auch die Produktion von kritischen Gütern wie Halbleitern, die größtenteils in Ostasien hergestellt werden, oder die Versorgung mit Energie stellten Schlüsselindustrien dar. Die Abhängigkeit von solchen Gütern oder Technologien könne schnell zu einem „Problem von makroökonomischer Relevanz“ werden. Staatliche Stellen hätten die Möglichkeit, sich Einblicke in Datenströme zu verschaffen, die bei den Technologieführern im eigenen Land zusammenlaufen, oder könnten sogar den Zugang zu bestimmten Produkten oder Dienstleistungen einschränken beziehungsweise von politischen Zugeständnissen anderer Länder abhängig machen. „Da sich die wichtigsten Industrien tendenziell in einem oder wenigen Ländern konzentrieren, macht es einen Unterschied, ob diese in Kalifornien, Shanghai oder Hessen angesiedelt sind“, schreiben Dullien und Hackenbroich.
Jahrzehntelang habe die EU den Ansatz verfolgt, möglichst keine aktive Industriepolitik zu betreiben. Die Idee sei gewesen, dass ein starker und gut funktionierender Markt die Dinge besser regeln würde als staatliche Eingriffe. Effizienz zu steigern und Kosten zu senken, habe im Vordergrund gestanden. Nun müssten die Europäer aber erkennen, dass sich dadurch „die Verwundbarkeit massiv erhöht“ hat. „Vieles deutet darauf hin, dass die marginalen Vorteile der letzten Globalisierungsschritte das damit verbundene Risiko nicht mehr kompensieren können“, so die Autoren.
In dieser Situation müssten die Verantwortlichen in Brüssel und den Mitgliedsländern das Verhältnis zwischen „selektivem Protektionismus“ und Offenheit für Handel und Investitionen neu justieren, um einseitige Abhängigkeiten zu verhindern. Das Ziel sei nicht, alles in Europa zu produzieren. Es gehe darum, Schlüsseltechnologien zu erhalten und eine Antwort darauf zu finden, dass andere Länder wirtschaftliche Abhängigkeiten zunehmend „als Waffe einsetzen“. Sollte die EU ihre Industriepolitik neu ausrichten, könne sie dabei eine Reihe von Instrumenten verwenden, die auch wichtig sind um beispielsweise Klimaziele zu erreichen und Sozialstandards zu sichern: die Bereitstellung von Infrastruktur, strategisches öffentliches Beschaffungswesen, höhere Anforderungen in den Bereichen Sicherheit, Nachhaltigkeit und Arbeitnehmerrechte, Intervention bei Übernahmen von Schlüsselunternehmen und staatliche Beteiligung an essenziellen, zugleich aber risikoreichen Großinvestitionen. Wenn es die EU und ihre Mitgliedsstaaten versäumen, eine aktivere, strategische Rolle in der Industriepolitik einzunehmen, könnten „Unternehmen und ihre Beschäftigten in Europa ins Hintertreffen geraten“.
Weitere Informationen:
Sebastian Dullien, Jonathan Hackenbroich: European Industrial Policy: A Crucial Element of Strategic Autonomy, IMK Policy Brief Nr. 130, September 2022.
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