04.10.2023 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Neben den Preisschocks von den internationalen Energie- und Nahrungsmittelmärkten nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat eine „Gewinninflation“ damit wesentlich dazu beigetragen, dass die Teuerungsraten im vergangenen und in diesem Jahr sehr hoch waren und sind. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Trotz der deutlichen gesamtwirtschaftlichen Wirkung konzentriert sich das Phänomen auf einen relativ kleinen Teil der Wirtschaft. Auffällig ist der Anstieg der nominalen Stückgewinne in vier Wirtschaftsbereichen verlaufen: Am Bau, im von der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) so zusammengefassten Großbereich „Handel, Verkehr und Gastgewerbe“ sowie etwas abgeschwächt im Bereich „Produzierendes Gewerbe ohne Bau- und Verarbeitendes Gewerbe“, zu dem die Energieerzeugung gehört, und in der Landwirtschaft. Vor allem in den ersten beiden Bereichen sind nach der neuen Analyse des IMK nicht nur die Gewinne stark gewachsen, sie stiegen auch stärker als in anderen europäischen Ländern und ihre Entwicklung lief jener der Löhne voraus, sodass man hier von einer durch Gewinnsteigerungen induzierten Inflation sprechen kann. In anderen Branchen, etwa weiten Teilen der Industrie, stiegen die Gewinnmargen dagegen lediglich moderat, so dass von ihnen kein besonderer Inflationsdruck ausging.
Eindeutige Ursachen für die außergewöhnlichen Gewinnanstiege lassen sich bislang noch nicht identifizieren, weil dafür noch nicht genügend aktuelle Daten aus der VGR vorliegen. Weitgehend ausschließen können die Forschenden des IMK allerdings die These einer Überschussnachfrage als zentrale Ursache für die gestiegenen nominalen Stückgewinne. Danach hätten Konsumentinnen und Konsumenten Produkte kurzfristig so stark nachgefragt, dass sich durch den „normalen“ Preisbildungsmechanismus deutlich höhere Preise ergeben. Dieser These widerspreche die Nachfrageentwicklung in den besonders durch Gewinnanstiege geprägten Wirtschaftsbereichen, betonen die Studienautor*innen Prof. Dr. Sebastian Dullien, Dr. Ulrike Stein und Prof. Dr. Alexander Herzog-Stein.
In ihrer Untersuchung durchleuchten die Forschenden die Gewinnentwicklung in der deutschen Wirtschaft erstmalig über den gesamten Zeitraum von Anfang 2021, als die zuvor sehr schwache Preisentwicklung anzog, bis inklusive des 2. Quartals 2023, dem jüngsten, für das aktuell VGR-Daten verfügbar sind. Als relevante Größe betrachten die Wissenschaftler*innen die nominalen Stückgewinne von Unternehmen als Gegenstück zu den nominalen Lohnstückkosten. Inflationstreibend sind Stückgewinne oder -kosten, wenn ihr Zuwachs die EZB-Zielinflationsrate von jährlich zwei Prozent deutlich überschreitet, und das nicht nur kurzfristig. Um die Trends besser einordnen zu können, vergleichen die Forschenden die Daten für Deutschland aus der aktuellen Krise mit denen anderer EU-Staaten sowie mit der Entwicklung in der weltweiten Finanzkrise ab 2008.
In der Analyse zeigt sich, dass die nominalen Stückgewinne gesamtwirtschaftlich ab Mitte 2021 deutlich angezogen haben und dann ab Anfang 2022 noch einmal sehr stark zulegten. Im Ergebnis lagen sie am Ende des 2. Quartals 2023 fast 25 Prozent höher als im wirtschaftlich „normalen“ Vergleichsjahr 2019, bevor die Corona-Krise begann. Vereinbar mit dem Inflationsziel der EZB wäre in dem Zeitraum ein Anstieg von weniger als 8 Prozent gewesen. Bei systematischer Betrachtung der unterschiedlichen Wirtschaftsbereiche erweisen sich vier Bereiche als wesentliche Treiber der gesamtwirtschaftlichen „Gewinninflation“: Baugewerbe/Bau, Handel, Verkehr, Gastgewerbe sowie „Produzierendes Gewerbe ohne Bau- und Verarbeitendes Gewerbe“, zu der die Energieerzeugung gehört, und Landwirtschaft.
Gemeinsam haben die vier Branchen auffällig starke Gewinnsteigerungen, bei denen die Profite in der Spitze um knapp 50 bis fast 100 Prozent gegenüber 2019 hochschnellten (siehe Abbildung 2 in der Studie). Im Detail unterscheidet sich die Gewinnentwicklung zwischen diesen Branchen dabei im zeitlichen Ablauf sowie in der Stärke zum Teil erheblich. So hat sich in der Landwirtschaft der drastische Ausschlag relativ früh und stark zurückgebildet. In den drei übrigen Wirtschaftsbereichen dauerte die Gewinnrallye deutlich länger, sie scheint mittlerweile ihren Höhepunkt aber ebenfalls überschritten zu haben.
Verschiedene Forschende, die für Deutschland, Europa oder die USA ebenfalls eine „Gewinninflation“ beobachten, haben diverse Hypothesen zur Erklärung aufgestellt. Dazu zählen, bezogen vor allem auf die USA, ein Nachfrageüberschuss, der auch aus einer zu starken staatlichen Stützung der Nachfrage in der Krise resultieren soll. Ein anderer Erklärungsansatz geht aus von implizit koordinierten Preiserhöhungen zwischen einflussreichen Unternehmen. Das heißt dass diese, ohne formale Absprache, ausnutzen, dass sich viele Verbraucher*innen angesichts von Lieferkettenproblemen in der Corona- und von Energiepreisschüben in der Ukrainekrise auf steigende Preise eingestellt haben. In diesem Klima dehnen die Konzerne zusätzlich ihre Margen aus. Eine weitere Hypothese basiert auf dem Phänomen der asymmetrischen Preissetzung: Unternehmen geben Preiserhöhungen bei Vorprodukten oder Energie schneller und stärker an ihre Kund*innen weiter als Preissenkungen.
Dullien, Stein und Herzog Stein prüfen die verschiedenen Ansätze anhand der vorliegenden VGR-Daten auf ihre Plausibilität. Für die Hypothese der Überschussnachfrage finden sie keinerlei empirischen Beleg. Die asymmetrische Preissetzung kann nach Analyse der IMK-Fachleute allenfalls einen Teil des Gewinnschubs erklären, weil dieser schon einsetzte, bevor die Energiepreise im Frühjahr 2022 explodierten. Die These von den impliziert koordinierten Preiserhöhungen von Unternehmen mit einer gewissen Marktmacht, für die Prof. Dr. Isabella Weber und ihr Ko-Autor Evan Wasner in den USA einige Indizien gefunden haben, stehe in Deutschland „durchaus mit den aggregierten Daten in Einklang“, schreiben die IMK-Expert*innen. Allerdings stelle sich die Frage, „warum dieser Kanal insbesondere bei jenen Wirtschaftsbereichen wirken sollte, die jetzt besonders hohe Gewinnanstiege zu verbuchen haben.“ Denn während etwa der Einzelhandel tatsächlich stark konzentriert ist, sind Gastgewerbe oder Baubranche eher durch kleine Unternehmen geprägt.
Generell fehlten für eine vertiefte Analyse noch die nötigen Daten, konstatieren die Forschenden. Ihr Fazit daher: Die „Gewinninflation“ ist eine Realität, auch wenn sie sich langsam abzuschwächen scheint. Wie sie zustande kommt, lässt sich derzeit noch nicht befriedigend erklären.
Weitere Informationen
Sebastian Dullien, Alexander Herzog-Stein, Ulrike Stein: Gewinninflation: Realität oder Fata Morgana? Report Nr. 185, September 2023.
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