10.10.2022 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: DIW Berlin.
Die Anleiherenditen im Euroraum entwickeln sich bisher nicht so besorgniserregend, dass das neue Notfallprogramm der Europäischen Zentralbank schon zum Einsatz kommen müsste. Am 21. Juli hatte die EZB angekündigt, gezielt Anleihen von Krisenländern anzukaufen, wenn deren Renditen wie in der Euro-Finanzkrise 2012 ungeregelt stiegen. Die DIW-Ökonom*innen Kerstin Bernoth und Gökhan Ider haben daraufhin im Auftrag des Europäischen Parlaments untersucht, wie sich die Anleiherenditen im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Krisenjahr 2012 und zum Start der Eurozone entwickelten und welche Faktoren die Renditen jeweils getrieben haben. „Zwar sind in einzelnen Ländern die Renditen für Staatsanleihen gestiegen. Bislang entwickeln sie sich aber entlang der Fundamentaldaten der jeweiligen Euro-Länder. Marktübertreibungen sind nicht zu entdecken“, schlussfolgert Studienautorin Kerstin Bernoth, stellvertretende Leiterin der Abteilung Makroökonomie im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
Das von der EZB im Juli angekündigte Transmission Protection Instrument (TPI) soll sicherstellen, dass die seit Anfang des Jahres eingeleitete Straffung der Geldpolitik in den einzelnen Euro-Ländern gleichmäßig wirkt und nicht zu ungerechtfertigten Ausreißern bei den Staatsanleiherenditen führt. Im Krisenjahr 2012 waren die Renditen der südlichen Länder wie Griechenland, Italien und Portugal extrem gestiegen. Dies hatte diesen Ländern die Aufnahme neuer Schulden extrem verteuert und die Refinanzierung erschwert. Damals hatte die EZB interveniert und ebenfalls ein Programm angekündigt (OMT). Diese Ankündigung hat die Märkte so beruhigt, dass ein Einsatz des Instruments nicht nötig wurde.
Wir wissen aus vorherigen Krisen, dass sich das Blatt sehr schnell wenden kann, wenn sich die Risikowahrnehmung und die Herdendynamik auf den Finanzmärkten verändern.
Kerstin Bernoth
„Aktuell beabsichtigt die EZB, das neue Instrument erst zu aktivieren, wenn in einzelnen Ländern Marktirrationalitäten zu erkennen sind“, erläutert Studienautor Gökhan Ider. Die Entwicklung muss „ungeordnet und ungerechtfertigt in Bezug auf die wirtschaftliche und finanzpolitische Situation eines Landes“ sein. Dies hat sich durch die Untersuchungen mit einem Schätzmodell nun nicht bestätigt. Bisher sind es die gestiegene allgemeine Risikoaversion und die jeweiligen nationalen Fundamentaldaten, die die Zinsdifferenzen erklären.
„Wir wissen aber aus vorherigen Krisen, dass sich das Blatt auch sehr schnell wenden kann, wenn sich die Risikowahrnehmung und die Herdendynamik auf den Finanzmärkten verändern“, weiß DIW-Ökonomin Bernoth. „Die EZB sollte also genau im Blick behalten, wie sich die Renditen entwickeln und welche Faktoren diese Entwicklung treiben.“ In der Zwischenzeit fordern die Autor*innen aber auch, den rechtlichen und konzeptionellen Rahmen des Instruments genauer auszugestalten. Noch gibt es zu viele unklare Aussagen zu den Kriterien des Programms und die Abgrenzung zu anderen Programmen wie dem OMT und dem Pandemienotfallprogramm PEPP. „Bis diese Fragen geklärt sind, sollte das Eurosystem weiterhin auf bestehende Programme wie das PEPP und das OMT zurückgreifen. Sinnvoll wäre es aber auch, die nationalen Regierungen in die Pflicht zu nehmen und steigenden Zinsdifferenzen mit wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen entgegenzuwirken“, empfiehlt Studienautorin Bernoth.
Links:
Studie im DIW Wochenbericht 40/2022
Interview mit Studienautorin Kerstin Bernoth
Bild: Immo Wegmann (Unsplash, Unsplash Lizenz)