Zitationsverweis
: »Das Yezidentum (Êzîdentum) und die anhaltende Diskriminierung und Verfolgung der ethno-religiösen Gruppe« (In: Rechtshandbuch für Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, hrsg. von , Auflage 88, Hamburg: Verlag Dashöfer 2023, Abschn. 2.2.1)
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Yezid*innen oder Êzîd*innenIm deutschsprachigen Raum sind die Schreibweisen „Yezid*innen“ und „Jesid*innen“ geläufig. – ihre selbst gewählte Schreibweise – gehören zu einer ethno-religiösen, nicht homogenen und multi-lingualen GemeinschaftDas Êzîdentum (Yezidentum) ist eine eigenständige Religion, die auch einen ethnischen Faktor hat, da einige Êzîd*innen sich auch als eigenständige ethnische Gruppe verstehen. mit einer monotheistischen Vorstellung, die schon viele Genozide und Jahrhunderte der Verfolgung erlebt hat. Es ist eine Glaubensgemeinschaft mit alt-iranischen vorchristlichen Wurzeln, die bis 2.000 Jahre vor Christus zurückreichen sollen. Ihr Hauptsiedlungsgebiet befindet sich im Nordirak (Sinjar-Region) und die große Mehrheit spricht Kurmanci (Nordkurdisch). Insgesamt gibt es weltweit ca. eine Million Yezid*innen. Weitere wichtige Länder sind Syrien, Iran und die Türkei. Durch die Genozide und die strukturelle Diskriminierung in diesen Ländern mussten viele Yezid*innen in die Diaspora flüchten, d. h. in Gebiete, wo sie nur eine Minderheit darstellen. Zum Beispiel leben in der Türkei nur noch wenige Hundert Yezid*innen. Ca. 75.000 Menschen der Gemeinschaft sind nach Armenien gegangen, aber die größte Diaspora-Gruppe lebt in Deutschland mit ca. 200.000 Yezid*innen.
Spricht man heutzutage von der Verfolgung der Gruppe, dann meint man meistens den Genozid an den Yezid*innen von 2014, als der sogenannte „Islamische Staat“ (IS) die Gemeinschaft in ihren angestammten Siedlungsgebieten gänzlich auslöschen wollte. Dies ist eine der jüngsten Zäsuren für das Yezidentum. Dieser Artikel soll sich mit dem Genozid von 2014 und seinen Folgen für die Gemeinschaft im Irak und in Deutschland auseinandersetzen. Besonders in Deutschland ist das Thema dieses Jahr präsent, da der Genozid am 19. Januar 2023 als ein solcher durch den Deutschen Bundestag anerkannt wurde. Zu fragen ist auch, was eine solche Anerkennung mit sich bringt und wozu der Deutsche Bundestag sich damit verpflichtet hat. Dieser Beitrag nimmt eine religionswissenschaftliche Sicht ein und geht dabei auf die Erfahrungen der Arbeit einer NGODie hier angesprochene NGO ist die Gesellschaft für bedrohte Völker e. V. Sie hat beratenden Status im UN-Menschenrechtsrat und im Europarat und setzt sich für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten sowie indigene Völker ein. ein, die seit vielen Jahren zu dem Thema zusammen mit dieser Gemeinschaft politisch aktiv ist.
Der Genozid von 2014
Yezid*innen blicken auf eine lange Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung zurück, unter anderem im Osmanischem Reich. Zuletzt waren sie im Irak 2014 den Terrormilizen des IS ausgesetzt, der in dem Jahr seine größte territoriale Ausdehnung im Irak erlangte. Wie die Begrifflichkeit „Islamischer Staat“ schon zeigt, ist die Hauptintension der Terrororganisation ein weltweites islamistisches Kalifat zu errichten. Mit dieser Ideologie wird insbesondere die Verfolgung von ethnischen und religiösen Minderheiten gerechtfertigt. Neben Yezid*innen gehören dazu Christ*innen, Turkmen*innen und weitere Gemeinschaften. Nachdem der IS in Mossul eingefallen war, wurden von der Nacht vom 2. auf den 3. August 2014 die Siedlungsgebiete der Yezid*innen in der Region Sinjar angegriffen. Das Ziel war ihre vollständige Auslöschung. Die Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht. Männer wurden meistens hingerichtet, wenn sie nicht zum Islam konvertierten. Jungen wurden in Koranschulen gezwungen, einer Gehirnwäsche unterzogen und später als Kindersoldaten und Selbstmordattentäter eingesetzt. Frauen und Mädchen wurden versklavt, verkauft und vergewaltigt. Neben dem 3. ist der 15. August ein wichtiges Datum in der Zeitlinie des Genozides. An diesem Tag kam es zu Massenhinrichtungen im Dorf Kocho, zwölf Tage nach dem Beginn des Angriffes. Insgesamt wurden rund 10.000 Menschen getötet und ca. 7.000 Frauen und Kinder gefangen genommen. Dazu kommt, dass ca. 430.000 Menschen ihre Heimat im Nordirak verloren und vor dem IS fliehen mussten.
Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe
Wenn man im Zusammenhang mit dem Genozid von 2014 über yezidische Frauen und Mädchen spricht, ist ein Aspekt besonders wichtig, der der sexualisierten Gewalt als Kriegswaffe. Oftmals werden Vergewaltigungen und sexualisierte Gewalt als „Nebenprodukt“ der Verrohung im Krieg angesehen. Dies ist aber falsch. Vergewaltigungen werden oft gezielt als Kriegswaffe eingesetzt. In diesem Fall ist dies begründet in dem Vorhaben des IS den yezidischen Glauben vollkommen auszulöschen. Dazu muss man wissen: Im irakischen Recht wird die Religionszugehörigkeit nach der des Vaters bestimmt. Und ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass man zum yezidischen Glauben nicht konvertieren kann. Beide Eltern müssen zur yezidischen Gemeinschaft gehören, damit die Kinder auch Yezid*innen sind. Werden die Frauen nun von IS-Kämpfern vergewaltigt, dann gelten die Frauen selbst schon als ausgeschlossen. Kommen durch diese Vergewaltigungen Kinder auf die Welt, dann gehören sie nicht mehr zur yezidischen Gemeinschaft, weder nach irakischem Recht, noch nach den Regeln des Yezidentums. Damit wird sexualisierte Gewalt strategisch eingesetzt, um auch die nächste Generation der Glaubensgemeinschaft auszulöschen. Zudem wurden die Frauen und Mädchen dabei so traumatisiert, dass sie selbst nach einer Befreiung nur schwer wieder in ein normales Leben zurückkehren können. Dazu muss gesagt werden, dass durch die yezidische Gemeinschaft die Frauen und Mädchen, die von IS-Kämpfern versklavt und vergewaltigt wurden, gesegnet und in die Gemeinschaft wieder aufgenommen wurden. Die yezidische Gemeinschaft, besonders das geistliche und das weltliche Oberhaupt (Baba Sheikh und Mir), hat die Zugehörigkeit der Frauen und ihr Wohlergehen über einzelne Traditionen gestellt. Das Festhalten an den Traditionen wurde als moralisch falsch angesehen. Heute sind viele der überlebenden Frauen starke Advokatinnen für die yezidische Gemeinschaft. Für die Kinder, die durch die Vergewaltigungen entstanden sind, gibt es noch keine Lösung, um sie in die yezidische Gemeinschaft aufzunehmen. Doch auch hier wird nach einer inneryezidischen Lösung gesucht.
Die heutige Situation im Irak
Bis heute ist die Situation im Irak sehr gefährlich für Yezid*innen. Rund 300.000 Menschen leben immer noch in Lagern für Binnengeflüchtete in der Region Kurdistan-Irak, im Zentralirak oder in Syrien. Die humanitäre Lage in den Lagern ist schlecht und es gibt keine Zukunftsperspektiven. Kinder, die in den Lagern geboren wurden, sind jetzt bis zu neun Jahre alt und können sich nur an ein Leben im Camp erinnern. Die Rückkehr in die Region Sinjar ist kaum möglich. Die Gebiete sind immer noch zerstört und werden durch unsichere Strukturen und Kämpfe zwischen der irakischen Regierung und Milizen immer wieder zu gefährlichen Zonen. Dazu kommen völkerrechtswidrige Angriffe der Türkei auf den Nordirak. Die türkische Regierung greift mit Drohnen die Regionen an, die hauptsächlich von Kurd*innen und Yezid*innen bewohnt werden.Vgl.: Deutscher Bundestag: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden (Yezid*innen) 2014. Drucksache 20/5228, 18. Januar 2023. S. 2. Besonders die Autonome Region Kurdistan ist hiervon betroffen. Auch der Einfluss von iranischen Milizen destabilisiert die Situation im Irak. Dazu kommen immer wieder aufflammende Aggressionen der Milizen des IS. Obwohl der IS großflächig zurückgedrängt werden konnte, kann man nicht davon sprechen, dass er keine Gefahr mehr darstellt. Es kommt immer wieder zu Angriffen, besonders auf Yezid*innen.Deutscher Bundestag: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden (Yezid*innen) 2014. Drucksache 20/5228, 18. Januar 2023. S. 2.
Es muss berücksichtigt werden, dass der Genozid nicht einfach aus dem Nichts entstanden ist. Wie schon vorher angesprochen, gibt es bereits seit Jahrhunderten Verfolgung von Yezid*innen. Dies zeigt sich in struktureller Diskriminierung und Vorurteilen, die nicht verschwunden sind. Im Gegenteil, sie werden weiter von extremistischen und islamistischen Stimmen angefeuert. Das wohl größte Vorurteil gegen die yezidische Gemeinschaft ist, dass sie Teufelsanbeter oder Ungläubige seien, die vom wahren Glauben abgefallen seien. Das Vorurteil, dass Yezid*innen Teufelsanbeter seien, ist in einer vollkommen falschen Vorstellung der Religion begründet. Im yezidischen Glauben gibt es so etwas wie den Teufel gar nicht, da man Gott als allmächtig ansieht und es dadurch keine Gegenmacht zu ihm gegeben kann. Yezid*innen selbst sprechen den Begriff Teufel nicht einmal aus, da dessen Existenz komplett verneint wird und schon die Annahme einer Gegenkraft als blasphemisch angesehen wird. Extremistische Mullahs nutzen diese Vorurteile weiterhin, um gegen Yezid*innen zu hetzen. In einer hauptsächlich muslimischen Gesellschaft ist das sehr gefährlich und trägt dazu bei, dass viele Menschen diese falschen Behauptungen glauben und zur Diskriminierung der Yezid*innen beitragen.
Trotz der sehr schwierigen Situation versucht die Gemeinschaft, den Genozid weiter aufzuarbeiten. Die Ausgrabung der Massengräber ist hierbei ein wichtiger Bestandteil. Bisher wurden mit internationaler Unterstützung seit März 2019 insgesamt 43 Massengräber im Sinjar exhumiert, darunter 17 in Kocho, eines in Solagh, sechs in Hardan, sechs in Qiney und sechs in Ger Zarik.Vgl.: Pressemitteilung Yazda: Yazda welcomes and supports the exhumation of mass graves in Hamadan, Sinjar. 03. März 2023. Auch die irakische Regierung hat Schritte zur Aufarbeitung eingeleitet. 2021 hat das irakische Parlament das „Yazidi [Woman] Survivor Law“ ratifiziert. Es regelt Hilfen für yezidische Überlebende, insbesondere für yezidische Frauen, für finanzielle Entschädigung, Rehabilitation, medizinische Behandlung und wirtschaftliche Unterstützung.Vgl.: Pressemitteilung Gesellschaft für bedrohte Völker: Außenministerin Baerbock im Irak. Feministische Außenpolitik auch für Yezidinnen. 08. März 2023. Doch seit zwei Jahren ist in der Praxis nicht viel geschehen, und es ist gibt kaum wirkliche Entschädigungen und sichere Räume für Frauen, um ihre Geschichten zu erzählen. Die Coalition For Just Reparation hat dieses Jahr einen Report veröffentlicht, der die fehlenden Maßnahmen kritisiert.Coalition For Just Reparation: More than „Ink on Paper“: Taking Stock two Years After the Adoption of the Yazidi [Female] Survivors Law. 01.03.2023. https://c4jr.org/wp-content/uploads/2023/03/More-than-Ink-on-Paper-two-years-after-YSL-adoption-report-FIN-ENG.pdf (Stand: 02. Oktober 2023).
Heutige Situation in Deutschland
In Deutschland wurde 2014 schnell auf den Genozid an den Yezid*innen reagiert und es wurden Schutzprogramme in mehreren Bundesländern angestoßen. Baden-Württemberg zum Beispiel hat in einem Sonderkontingent 1.100 yezidische Frauen und Kinder ins Bundesland geholt. Hierfür waren keine normalen Asylanträge notwendig und die Personen konnten mittels eines Schnellverfahrens nach Deutschland kommen. Ähnliche Programme gab es in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Berlin und Brandenburg.Vgl.: Deutscher Bundestag: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden (Yezid*innen) 2014. Drucksache 20/5228, 18. Januar 2023. S. 3. Die Frauen und Kinder, die durch die Sonderkontingente nach Deutschland gekommen sind, mussten sich schnell in Deutschland zurechtfinden. Besonders die Kinder wurden dadurch schnell erwachsen. Sie können oft schneller die Sprache und werden zu Dolmetscher*innen für ihre Familien, sind also bei jedem Amtsbesuch dabei. Die kollektiven und individuellen Traumata sind bei der Ankunft in Deutschland sehr präsent. Durch Programme zur Traumabewältigung konnten viele Menschen Hilfe in Anspruch nehmen. Trotzdem fühlen sich viele Familien zwischen Flucht und einem sicheren Leben, da Familienmitglieder noch in den Geflüchtetenlagern leben oder verschwunden sind. Ihre Angehörigen können mit dem Erlebten daher nicht abschließen.
Wie schon am Anfang angesprochen hat Deutschland die größte Diasporagemeinschaft an Yezid*innen. Viele leben schon seit mehreren Generationen in Deutschland. Bis heute haben sich viele verschiedene Verbände der Gemeinschaft gegründet, welche die Belange von Yezid*innen in Deutschland und weltweit an die Politik und Gesellschaft herantragen.
Trotzdem ist das Thema bisher nicht sehr bekannt. Das ist besonders schwierig, wenn es um Ersthelfer*innen und Ämter geht. Viele Menschen wissen nichts über Yezid*innen und ihre Situation. Oft werden sie einfach als Muslim*innen angesehen, was retraumatisierend wirken kann, da sie gerade durch extremistische Islamist*innen verfolgt werden. Auch in Asylverfahren wird in den letzten Jahren die Situation der Yezid*innen nicht genügend berücksichtigt. Durch den Genozid reichte es bis ca. 2017 zur yezidischen Gemeinschaft zu gehören, um Asyl zu bekommen. Danach wurde wieder zur Beurteilung von Einzelfällen übergegangen, wobei die Lage im Irak oft nicht zur Genüge berücksichtigt wird. So wurde zum Beispiel die Berufung einer Klage vom 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg zurückgewiesen, in der eine überlebende Yezidin des Genozides wegen der Verweigerung des Asyls klagte.Vgl.: Urteil 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg vom 7. Dezember 2021, Az. A 10 S 2189/21. Die Begründung dafür war: „Der Senat geht in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass eine Verfolgung der Gruppe der Jesiden weder in der Herkunftsregion der Klägerin, der Provinz Ninive, noch im übrigen irakischen Staatsgebiet erfolgt“Urteil 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg vom 7. Dezember 2021, Az. A 10 S 2189/21, Abs. 20. und „Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak durch den sog. IS, insbesondere in der Provinz Ninive oder in Teilbereichen von Ninive (insbesondere im Bereich des Ortes Kodscho), ist gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht zu verzeichnen.“Urteil 10. Senat des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg vom 7. Dezember 2021, Az. A 10 S 2189/21, Abs. 22. Solche Urteile sind keine Einzelfälle und gehen an der Situation im Irak und dem Beschluss zur Anerkennung des Genozides vorbei, was in diesem Beitrag noch behandelt werden wird.
Neben der Unwissenheit ist ein weiteres wichtiges Problem für Yezid*innen in Deutschland, dass viele Vorurteile aus dem Irak, Syrien und der Türkei auch nach Deutschland gekommen sind, denn andere Migrationsbewegungen aus den Ländern haben die Vorurteile mitgebracht. Aus Unwissenheit wird gegen die verletzenden Aussagen häufig nichts getan, und so fangen diese falschen Aussagen an, sich in Deutschland zu etablieren. Veraltete Darstellungen haben sich in der Literatur gefestigt. Erst dieses Jahr gab es eine Petition in Niedersachsen im Zusammenhang mit dem Buch „Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen“ von James Krüss. In dem Roman werden Yezid*innen als Teufelsanbeter bezeichnet, die Satan als Herrn der Welt anbeten. Diese Darstellung ist in den Vorurteilen gegenüber der Gemeinschaft begründet. Da dieses Buch als Schullektüre genutzt wird, will die Petition erreichen, dass die Passage nur noch kommentiert genutzt werden darf, da sie sonst die Vorurteile in der jungen Generation reproduziert.Vgl. Petition Bekämpfung von antijesidischem Rassismus. Petent: Tobias Huch. 26. April 2023. https://www.navo.niedersachsen.de/navo2/portal/nipetition/0/publicviewpetition?id=93# (Stand: 02. Oktober 2023). Die Petition hat die erforderlichen 5.000 Unterschriften erreicht und wurde am 27. September 2023 im Petitionsausschuss im Landtag beraten. Bisher gab es noch kein endgültiges Ergebnis. Besonders in Schulen fehlt es an Aufklärungsarbeit. Zahlreiche yezidische Kinder, die 2014 nach Deutschland kamen, gehen hier in die Schule und in den Kindergarten. Doch die Lehrkräfte sind selbst kaum über die Situation der Yezid*innen aufgeklärt, was es schwierig macht, deren Situation und bestehende Traumata im Alltag zu berücksichtigen. Auch können die Lehrkräfte oftmals nicht angemessen mit Konflikten, durch die Yezid*innen mit anderen Schüler*innen und deren Vorurteilen konfrontiert werden, umgehen.
Trotz der Probleme scheint sich langsam ein Bewusstsein für die Situation der Yezid*innen zu entwickeln, was sich darin widerspiegelt, dass erste IS-Täter*innen durch das Prinzip der Weltgerichtsbarkeit in Deutschland wegen Völkermordes verurteilt wurden. Die Verurteilte IS-Täterin Jennifer W. ist eigentlich aus Niedersachsen, hat sich radikalisiert und ist dann in den Irak gegangen, wo sie einen IS-Kämpfer, Taha Al-J., heiratete. Das Ehepaar hat im Irak eine Yezidin und ihre Tochter als Sklavinnen gehalten. Die Tochter ist dabei unter brutalen Bedingungen gestorben. Taha Al-J. wurde zu lebenslanger Haft und Jennifer W. zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Solche Gerichtsverfahren sind wichtig, um Täter*innen überall zu verurteilen.
Anerkennung des Genozides durch den Deutschen Bundestag
Die Begrifflichkeit „Genozid“ ist völkerrechtlich geschützt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah wurde in einer UN-Konvention 1948 die Definition für Völkermord/Genozid beschlossen und trat 1951 in Kraft. Hierbei ist essenziell, dass bei den Angriffen die Absicht besteht „to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group“.Vgl.: Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-prevention-and-punishment-crime-genocide (Stand: 02. Oktober 2023). Ein Genozid besteht mit der Absicht, eine Gemeinschaft auslöschen zu wollen, was sich nach der Konvention in fünf verschiedenen Aspekten zeigt: erstens die Tötung von Menschen, die zu der Gemeinschaft gehören; zweitens das Zufügen von schweren geistigen oder körperlichen Schäden bei Mitgliedern der Gruppe; drittens solche Lebensbedingungen der Gruppe aufzuerlegen, die auf deren Vernichtung abzielen; viertens Maßnahmen zu verhängen, die innerhalb der Gruppe Geburten verhindern, und fünftens die gewaltsame Überführung von Kindern der Gemeinschaft in eine andere Gruppe.Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide: https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-prevention-and-punishment-crime-genocide (Stand: 02. Oktober 2023). Im Hinblick auf 2014 kann man davon sprechen, dass alle fünf Aspekte der UN-Konvention zutreffen und es sich dabei um einen Genozid handelt. Zu dem Ergebnis kam auch UNITAD (United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da’esh/ISIL).
Die Anerkennung des Genozides an den Yezid*innen durch den Bundestag ist erst durch eine Petition aus der yezidischen Gemeinschaft heraus möglich gewesen. 2021 hat der Petent Gohdar Alkaidy eine Petition zur Anerkennung des Genozides gestartet, die durch viele weitere Vertreter*innen der Gemeinschaft getragen wurde. Um die Unterschriften zu sammeln gab es viele Straßenaktionen, wo besonders die yezidischen Jugendlichen sich für die Petition einsetzten. Die Petition erreichte die notwendigen 50.000 Unterschriften und kam 2022 vor den Petitionsausschuss des Bundestags. Danach kam es am 20. Juni 2022 zu einer Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, wo Vertreter*innen yezidischer Verbände, Zeitzeug*innen, Sachkundige im internationalen Strafrecht und der Arbeit mit traumatisierten Opfern sowie der Leiter von UNITAD angehört wurden. Die Fragen des Ausschusses bezogen sich einerseits auf die Gräueltaten des IS 2014, andererseits auf die heutigen Herausforderungen, welche die Gemeinschaft aktuell bewältigen muss. Auf der Basis dieser Sitzungen gab es einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP zur Anerkennung des Genozides an den Yezid*innen durch den Deutschen Bundestag.Deutscher Bundestag: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden 2014. Drucksache 20/5228, 18. Januar 2023.
Der Antrag sieht nicht allein eine symbolische Anerkennung des Genozides vor, sondern gibt weitere notwendige Handlungsbereiche an, in denen sich der Deutsche Bundestag engagieren soll und für die Gelder aus den Haushaltsmitteln zur Verfügung gestellt werden sollen. Der erste wichtige Aspekt ist der der Verfolgung von IS-Täter*innen und der Sicherung von Beweisermittlung durch Kooperationen unter dem Schirm von Eurojust. Die Sicherstellung von Beweismitteln in der Autonomen Region Kurdistan und im ganzen Irak soll zudem finanziell unterstützt werden. Im Irak selbst werden Angehörige des IS bisher nur wegen Zugehörigkeit zu einer Terrorgruppe verurteilt, nicht aber wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder Völkermord. Auch hier sieht der Antrag eine Unterstützung durch Deutschland vor, das irakische Strafgesetz zu erweitern. Weitere Unterstützung sieht der Antrag vor, bei der Suche nach den immer noch verschwundenen oder gefangenen yezidischen Frauen und Mädchen und weiteren Angehörigen der Gemeinschaft zu helfen. Außerdem ist die Lage der Kinder in dem Antrag aufgenommen. Einerseits die Situation der Kinder, die aus Vergewaltigungen durch IS-Kämpfer gezeugt wurden, andererseits die Kinder, die vom IS verschleppt und radikalisiert wurden. Hier sind vor allem Unterstützungs- und Schutzprogramme vorgesehen, wie Deradikalisierung und die Unterstützung der yezidischen Gemeinschaft bei der Integration der Kinder. Des Weiteren sieht der Antrag vor, dass Deutschland eine Rolle als Vermittler zwischen Bagdad, Erbil und yezidischen Vertreter*innen einnimmt. Die immer noch instabile und gefährliche Lage macht die Aufarbeitung des Genozides schwierig, da viel gegeneinander gearbeitet wird und Zuständigkeiten oft nicht klar und deutlich sind. Dazu soll der Wiederaufbau der Sinjar-Region und die humanitäre Hilfe in den IDP-Camps gesichert werden. Neben den Hilfen im Irak und für die yezidische Gemeinschaft direkt gibt es Handlungsvorschläge für Deutschland und in Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Situation. Einerseits sollen Dokumentations-, Forschungs- und Bildungsangebote auch in Deutschland unterstützt werden. Dabei geht es nicht nur um die Auseinandersetzung mit dem Genozid, sondern ebenfalls mit der Kultur und Religion der yezidischen Gemeinschaft. Die Diskriminierung, die es in Deutschland gibt, soll durch den Dialog und die Verbreitung von Wissen bekämpft werden. Andererseits soll die Situation von Yezid*innen weiterhin in Asylverfahren berücksichtigt werden: Der Antrag zielt darauf: „Êzîdinnen und Êzîden weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren und anzuerkennen, dass ein wichtiger Bestandteil der Traumabewältigung und -bearbeitung die Zusammenführung mit der eigenen Familie ist und dass diese im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen zu ermöglichen ist“Vgl.: Deutscher Bundestag: Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP. Anerkennung und Gedenken an den Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden 2014. Drucksache 20/5228, 18. Januar 2023. S. 7. Dies steht momentan noch in Widerspruch zu vielen Verfahren, in denen der Irak und die Autonome Region Kurdistan als sicher für Yezid*innen angesehen werden und es immer wieder zu Abschiebungen kommt, obwohl die Lage weiterhin gefährlich bleibt. In der Formulierung ist die Zusammenführung von Familien einbezogen worden. Auch hier gibt es in der Realität viele Schwierigkeiten, wie im ersten Teil des Beitrags schon angesprochen.
Der Antrag der Fraktionen wurde am 19. Januar 2023 im Bundestag diskutiert und einstimmig angenommen. Damit hat sich der Deutsche Bundestag verpflichtet, sich den Handlungsräumen der Dokumentation, Verfolgung von Täter*innen, Hilfe und Unterstützung im Irak, der Bildungs- und Forschungsarbeit in Deutschland und der Berücksichtigung bei Asylverfahren sowie der Familienzusammenführung anzunehmen. Die Anerkennung durch den Deutschen Bundestag hat hohe Wellen in der yezidischen Gemeinschaft geschlagen. Einerseits war die symbolische Kraft der Anerkennung sehr bedeutsam. Viele Betroffene haben sich gesehen gefühlt. Andererseits können mit der Anerkennung viele Projekte, die aus der Gemeinschaft selbst oder von anderen politischen Akteur*innen unterstützt werden, nun gefördert werden. Nach ca. neun Monaten ist es aber schwierig, die bisherigen Erfolge wirklich messen zu können.
Schlussbemerkung
Schaut man sich die Situation der Yezid*innen nun neun Jahre nach dem Genozid an, dann wird deutlich, dass die Gemeinschaft weiterhin vielen Herausforderungen gegenübersteht. Nicht nur die Lage im Irak ist weiterhin gefährlich und von struktureller Diskriminierung für Minderheiten geprägt. In Deutschland gibt es viel Unwissenheit über die Gemeinschaft und gleichzeitig viele Diskriminierungspunkte, die aus dem Irak und weiteren Ländern nach Deutschland gekommen sind. Die Hilfen, die der Gemeinschaft versprochen wurden, müssen nun auch in die Tat umgesetzt werden. Besonders mit der Anerkennung des Genozides und den Handlungspunkten, zu denen sich der Deutsche Bundestag verpflichtet hat, wurden große Hoffnungen geweckt. In der Asylpolitik zum Beispiel fehlt es aber momentan noch an der Umsetzung der Versprechungen. Mit der Zeit wird eine Bewertung der Maßnahmen nach der Anerkennung des Genozides möglich sein. Wichtig ist, dass Yezid*innen nicht nur als Opfer oder Betroffene eines Genozides gesehen werden. Sie sind eine aktive und starke Gemeinschaft, mit einem alten kulturellen und religiösen Erbe. Und sie kämpfen trotz der vielen Herausforderungen weiter für ihre Rechte im Irak und in Deutschland.