Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer Frau mit Behinderungen

27.06.2024  — Online-Redaktion Verlag Dashöfer.  Quelle: Frauen gegen Gewalt e.V..

Strafermittlungen wegen sexueller Gewalt an Frauen mit Behinderungen werden oft eingestellt. Die 28-jährige Sonja M. (Name geändert) hat nun ihre Verfassungsbeschwerde gewonnen: Das Landesverfassungsgericht Berlin entschied, dass ihr Fall neu geprüft werden muss. Ihr Sieg zeigt gravierende Mängel und Diskriminierung im Justizsystem auf.

Die 28-jährige Berlinerin Sonja M. hat eine Verfassungsbeschwerde gewonnen, die sie 2022 vertreten durch Professorin Dr. Theresia Degener und die Rechtsanwält*innen Ronska Grimm und Lea Beckmann beim Landesverfassungsgerichtshof Berlin eingereicht hatte. Sie erstattete 2020 Anzeige und sagte aus, dass sie von ihrem Vorgesetzten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen sexuell belästigt wurde. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen den Beschuldigten ein, weil Sonja M. wegen einer kognitiven Beeinträchtigung angeblich nicht fähig sei, eine Aussage zu machen. Gegen diese Entscheidung wehrt sie sich vor Gericht und wird dabei durch Frauen- und Behindertenrechtsorganisationen begleitet. „Mein Chef hat mich immer wieder angefasst und geküsst, obwohl ich gesagt habe, dass ich das nicht will. Das war schrecklich und mir geht es immer noch manchmal schlecht deshalb“, erklärt Sonja M. „Es ist einfach nicht fair, dass das für ihn keine Folgen hat.“

Der Verfassungsgerichtshof hob nun die Entscheidung des Kammergerichts Berlin wegen Verfassungsverstößen auf (Beschluss vom 19. Juni 2024, VerfGH 80/22). Das Kammergericht muss jetzt neu entscheiden und prüfen, ob die Einstellung der Ermittlungen im Fall von Sonja M. rechtmäßig war. Ihre Rechtsanwält*innen kritisieren eine strukturelle Diskriminierung gegen Frauen mit Behinderungen im Ermittlungsverfahren und insbesondere gravierende fachliche Mängel bei der aussagepsychologischen Begutachtung ihrer Mandantin. Sonja M. gilt als kognitiv beeinträchtigt. Im Verlauf des gesamten Ermittlungsverfahrens hatte die Justiz Schwierigkeiten, ihren behinderungsspezifischen Bedarfen gerecht zu werden. Eine von der Staatsanwaltschaft beauftragte Sachverständige, die offenbar keine behindertenspezifische Fachkenntnis vorwies, kam zu dem Ergebnis, dass Frau M. „aussageunfähig“ und ihre Aussage daher rechtlich wertlos sei. „Die von der Staatsanwaltschaft beauftragte Psychologin hatte keine Expertise zur Begutachtung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Sie hat sich während der Begutachtung diskriminierend verhalten und das Gutachten entspricht nicht den wissenschaftlichen Standards. Aufgrund dieses Gutachtens hätten die Ermittlungen nicht eingestellt werden dürfen,“ dazu Rechtsanwält*in Ronska Grimm. „Aufgrund vermeidbarer Fehler hatte unsere Mandantin schlichtweg nicht die gleiche Chance, wie Menschen ohne Behinderungen, dass ihre Aussage auch zu einer Verurteilung führt.“

„Tragisch ist: Dieser Fall ist in vielerlei Hinsicht kein Einzelfall,“ dazu Theresia Degener, Professorin für Recht und Disability Studies und ehemaliges Mitglied des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. „Es fehlt leider bei Polizei und Staatsanwaltschaft viel zu häufig an Bewusstsein und Fachwissen wie Ermittlungen bei sexueller Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen ausgestaltet werden müssen. Das steht im Widerspruch zu den grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen, etwa aus der UN-Behindertenrechtskonvention und der Istanbul-Konvention.“ Frauen mit Behinderungen sind zwei bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Gleichzeitig werden Ermittlungsverfahren überdurchschnittlich häufig eingestellt. Das liegt unter anderem daran, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Psycholog*innen fachliche Standards missachten und die Aussagen der betroffenen Frauen nicht angemessen gewürdigt werden.

„Der Landesverfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung nun noch einmal ausdrücklich klargestellt, dass die Verfassung und die UN-Behindertenrechtsgeschichte dazu verpflichten, Strafermittlungen diskriminierungsfrei auszugestalten“, dazu Lea Beckmann Rechtsanwältin und Antidiskriminierungsexpertin. „Staatsanwaltschaft und Polizei sollten unbedingt Lehren aus diesem Fall ziehen und ihre Standards und Vorgehensweisen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen überarbeiten.“

Die Verfassungsbeschwerde wird begleitet durch den bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, das Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung Weibernetz e.V. sowie das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.

Im bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe sind aktuell 216 Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen zusammengeschlossen, die den hauptsächlichen Anteil der ambulanten Beratung und Hilfestellung für Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland leisten. Mit den Projekten „Suse − sicher und selbstbestimmt“ setzt sich der bff seit 10 Jahren für die Rechte von gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen ein. Auf der Plattform www.suse-hilft.de finden Betroffene und Fachleute Hilfe und Unterstützung.

Das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) wurde 2015 als Forschungseinrichtung der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe gegründet und wird von Professorin Degener geleitet. Es versteht Disability Studies Grundlage für die UN-Behindertenrechtskonvention. Der vorliegende Fall war Anlass für den Fachtag „Zugang zum Recht für behinderte Mädchen und Frauen“ im Jahr 2023.

Weibernetz e.V. ist das Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung. Bei der bundesweiten Selbstvertretungsorganisation sind alle 12 Landesnetzwerke behinderter Frauen Mitglied. Der barrierefreie Zugang zum Gewaltschutz von Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigung ist seit der Gründung im Jahr 1998 ein wichtiges Thema im Weibernetz.

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Bild: AJEL (Pixabay, Pixabay License)

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