Das GEAS auf dem Prüfstand

08.06.2023  — Samira Sieverdingbeck.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

Am 8. Juni 2023 trafen sich die Innenministerinnen und Innenminister der EU, um eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu diskutieren. Wir fassen für Sie zusammen was hinter dem derzeitigen GEAS steckt, welche Reformen geplant sind und warum GEAS und Reformen kritisiert werden.

Stand: 9. Juni 2023:

Die Innenministerinnen und Innenminister konnten sich mit ausreichender Mehrheit auf einen Kompromiss einigen. Diese Position wird der europäische Rat in den nun folgenden Gesprächen und Verhandlungen mit dem Europäischen Rat vertreten.
Das Ziel der Einigung sei es Asylverfahren zu beschleunigen und Migration geordnet ablaufen zulassen. Das beinhalte auch die umstrittenen Schnellverfahren für Menschen mit niedriger Chance auf internationalen Schutz. Die Prämisse der Bundesregierung, Minderjährige und Familien mit Kindern von den Schnellverfahren auszunehmen, ist nicht Teil der Einigung. Die Bundesregierung ließ ihre Forderung jedoch durch eine Protokollnotiz festhalten. Ob es sich um einen symbolischen Akt handelt oder ob die Bundesregierung ihre Position verteidigen wird und kann, wird sich in den Verhandlungen zeigen.

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem

In den 1990er Jahren begann die Europäische Union mit der Entwicklung einer gemeinsamen Asylpolitik und entwarf schließlich das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Anreiz dafür gab die starke Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten. Bis dato war der Umgang mit Asylbewerberinnen und -bewerbern je nach Mitgliedstaat sehr unterschiedlich und vor allem nicht genormt. Außerdem fielen, durch das Inkrafttreten des Schengener Abkommens, Personenkontrollen innerhalb der EU weg. Die Außengrenzen sollten deshalb besonders gründlich kontrolliert und überwacht werden.

Stand heute

Heute sind für das GEAS zwei Verordnungen und verschiedene Richtlinien besonders richtungsweisend:

  • Die Dublin III-Verordnung bestimmt über die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Sie soll Klarheit schaffen und die Sekundärwanderung innerhalb Europas steuern bzw. begrenzen.
  • Die Eurodac-Verordnung soll die doppelte Antragstellung verhindern. Dafür werden die Fingerabdrücke des Bewerbers oder der Bewerberin bei der Antragstellung aufgenommen und in einer Datenbank gespeichert.
  • Die Aufnahmerichtlinie gibt Mindeststandards für die Unterbringung und Versorgung Asylsuchender vor.
  • Die Asylverfahrensrichtlinie regelt europaweit den Ablauf für die Zu- und Aberkennung von internationalem Schutz.
  • Die Qualifikationsrichtlinie definiert die Voraussetzungen, die für die Gewährung eines Schutzstatus erfüllt sein müssen.
  • Die Rückführungsrichtlinie setzt Mindeststandards für die Beendigung eines Aufenthalts bzw. für die Rückführung in das Herkunftsland.

Außerdem setzt die EU zwei Institutionen zur Unterstützung und Koordination ein. EASO, das Europäische Unterstützungsbüro bei Asylfragen hilft und unterstützt nationale Asyl- und Einwanderungsbehörden. Frontex, die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, koordiniert Einsätze zum Schutz der Außengrenzen.

Das System hat Lücken

Obwohl es bereits in den 1990er Jahren die Bestrebung war ein einheitliches Asylsystem zu etablieren, gibt es bis heute große Unterschiede zwischen den nationalen Systemen. 2015 wurde das GEAS durch die starke Zuwanderung auf die Probe gestellt – und hat nicht stand gehalten. Es hat strukturelle Schwächen und leidet unter Umsetzungsproblemen:

Dublin III

Die Dublin-III-Verordnung sorgt für starke Ungleichheit. Sie besagt, dass Asylsuchende ihren Antrag dort stellen müssen, wo sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Wer also in Staaten wie Deutschland, ohne EU-Außengrenzen einen Asylantrag stellen will, müsste schon schweben. Im Umkehrschluss sind die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen, wie Italien, Spanien, Griechenland, Malta und Zypern, stark belastet. Die Überforderung und ein fehlendes Verteilungssystem führen zu weiterem Leid. Menschenrechtsorganisationen weisen immer wieder auf menschenrechtsverletzendes Verhalten im Rahmen des GEAS hin. Als Beispiele werden meist die sogenannten Pushbacks, die gewaltsame Zurückdrängung Geflüchteter in den Nicht-Schengen-Raum, und die menschenunwürdige Unterbringung in überfüllten Lagern genannt.

Unterschiede führen zu Sekundärwanderung

Der Anteil der positiven Asylentscheidungen, die sogenannten Schutzquoten, weichen national stark voneinander ab. Deshalb versuchen viele Asylsuchende ihren Antrag dort zu stellen, wo die Schutzquote für ihr Herkunftsland besonders hoch ist. Sie betreiben Sekundärwanderung, reisen also innerhalb der EU weiter. Stellen sie dann einen Asylantrag, überprüfen die örtlichen Behörden, ob bereits eine Registrierung in einem anderen Mitgliedsstaat besteht. Ist das der Fall, sollen die Asylsuchenden dorthin überstellt werden. In der Praxis scheitert die Überstellung jedoch meist. Laut der Europäischen Kommission wurden 2020 nur ein Viertel der genehmigten Überstellungsersuche durchgeführt.

Seenot ohne Rettung

Die Zuwanderung über die Mittelmeerrouten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. 2021 wurden 112 600 Seeüberquerungen gezählt. Seit 2014 bis heute sind 25 000 Migranten und Migrantinnen auf diesem Weg ertrunken. Dazu kommt die große Dunkelziffer derer, die die Durchquerung der Sahara nicht überleben.
2013 baute Italien eine Seenotrettung auf. 2014 wurde sie jedoch durch EU-Operationen ersetzt, die sich mehr auf Grenzkontrollen und die Bekämpfung von Schleuseraktivitäten konzentrierten. Heute übernehmen zivilgesellschaftliche Organisationen die Seenotrettung.

Die geplante Reform

Schon unter Jean-Claude Juncker diskutierte die EU-Kommission über eine Reform des GEAS. Jedoch streubten sich einige Mitgliedstaaten und Junkers Legislaturperiode endete 2019, bevor Einigungen getroffen werden konnten.
Unter Ursula von der Leyen versuchte die EU-Kommission erneut eine Reform. Zentral ist dabei die Ablösung des Dublin-Systems. Es soll ein gerechtes Verteilungssystem für Geflüchtete innerhalb der EU eingerichtet werden.

Der Rat der Europäischen Union formulierte außerdem folgende Ziele: Das Asylsystem solle in Zukunft stressresilienter sein. Sekundärmigration und der Missbrauch von internationalem Schutz sollen unterbunden werden. Die am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten sollen Unterstützung erfahren.
Vielfach kritisiert wurde das angekündigte Schnellverfahren. Asylbewerber und -bewerberinnen, aus Ländern für die die EU-weite Schutzquote unter 20 % liegt, würden dann schon an der Außengrenze einer Vorprüfung unterzogen. Diese solle maximal drei Monate dauern. Die Bundesregierung zeigte sich dem Vorschlag gegenüber nicht abgeneigt, plädierte jedoch dafür, das Schnellverfahren nicht für Minderjährige oder Familien mit Kindern anzuwenden.

Kritik aus verschiedenen Richtungen

Bereits am 16. Mai appellierten über 50 Organisationen an die Bundesregierung, es dürfe bei der Reform keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes geben. Amnesty International fordert die europäischen Innenministerinnen und Innenminister nun ein weiteres Mal auf, den Flüchtlingsschutz nicht zu vernachlässigen und gegen die geplante Reform zu stimmen. Die stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Julia Duchrow, stufte „die deutsche Verhandlungspolitik hinsichtlich der ‚sicheren Drittstaaten‘“ als besonders besorgniserregend ein. Die Senkung der Anforderung an diese Staaten, könne die Gefahr „völkerrechtswidriger Kettenabschiebungen“ erhöhen. Sie betonte, dass die Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt hatte, „das Leid an den EU-Außengrenzen zu beenden und bessere Standards in Asylverfahren zu etablieren“.

Mit Blick auf den Koalitionsvertrag kriselte es auch in den Reihen der Grünen. ZDFheute berichtete über einen Brief, den rund 730 Mitglieder des Bündnis 90 / Die Grünen unterzeichnet hatten. Darin heißt es, es sei schwer nachvollziehbar, „warum die deutsche Verhandlungsposition nicht annähernd den Inhalten des Koalitionsvertrags entspricht.“ Außenministerin und Grünen-Politikerin Annalena Baerbock betonte in einem Interview mit der Funke Mediengruppe: „Grenzverfahren sind hochproblematisch, weil sie in Freiheitsrechte eingreifen“. Jedoch sei der Reformvorschlag derzeit die einzige Möglichkeit zeitnah ein geordnetes und humanes Verteilungsverfahren zu erreichen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser will sich dafür einsetzen, dass das Schnellverfahren nicht auf Minderjärige und Familien mit Kindern angewendete wird. Ob sie einer Reform zustimmt, falls ihr Anliegen nicht berücksichtigt wir, ließ sie offen.

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Bild: Pixabay (Pexels, Pexels Lizenz)

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