Woher kommen die Schlangen?

Medusa ist die Tochter des Meeresgottes Phorkys und seiner Schwester Keto. Sie hat zwei ihr nahe stehende Schwestern, Stheno und Euryale, doch Medusa ist die einzige Sterbliche der drei. Warum sie als einzige der Schwestern dieses Schicksal trifft, ist nicht erklärt.

Medusa und Poseidon

Verschiedene Autoren, darunter Hesiod und Ovid, beschreiben Medusa als wunderschöne Frau. Besonders ihre Haare stechen hervor. Viele Männer verehren sie und ihre Schönheit, darunter der Meeresgott Poseidon, der erste der zwei Männer, die Medusas Schicksal nachhaltig prägen.
Während Hesiod einvernehmlichen Sex beschreibt, zeichnet Ovid ein anderes Szenario: Im Tempel der Kriegsgöttin Athene vergewaltigt Poseidon Medusa. Athene ist rasend über die Entweihung ihres Tempels und verwandelt in ihrer Wut die vielfach begehrten Haare Medusas in Schlangen.
Athenes Verhalten lässt sich aus drei Blickwinkeln lesen. Zwar ist Athene als Göttin des Krieges eine der wichtigsten Frauen in der griechischen Mythologie, doch sie sympathisiert selten mit anderen Frauen. Die Verwandlung Medusas wirkt wie eine Bestrafung und wird daher oft als Schuldzuweisung an Medusa gelesen. Die Geschichte Medusas wurde eine Art Präzedenzfall der dahinterstehenden, misogynen Vorstellung: Wer vergewaltigt wird, trägt selbst (Mit-)Schuld.
Gleichzeitig kann man Athenes Verhalten auch als Übersprungshandlung verstehen. Vielleicht möchte sie eigentlich Poseidon bestrafen, kann aber nicht riskieren, ins direkte Kräftemessen mit dem mächtigen Meeresgott zu gehen. Daher wendet sie sich gegen Medusa. Diese Art der Interpretation liegt auch nahe, wenn man Hesiods Erzählung, der des einvernehmlichen Sex, folgt.
Für die dritte Interpretationsmöglichkeit nehmen wir an, dass Athene Medusa durch die Verwandlung schützen möchte. Die Haare, die Medusa zum Objekt der Begierde so vieler Männer gemacht hat, sind jetzt eine kraftvolle Waffe und Abschreckung gegen frühere Verehrer (und Vergewaltiger).
Ob Athene Medusa an dieser Stelle auch die Fähigkeit verleiht, andere Lebewesen in Stein zu verwandeln, oder ob Medusa schon früher dazu in der Lage war, ist unklar. Letztlich bleibt auch verborgen, welche Intention Athene mit der Verwandlung verfolgt, doch für Medusa ist das Ergebnis das gleiche: Von einer wunderschönen Frau ist sie zu einem angsteinflößenden, aber mächtigen Monster geworden. Sie zieht sich in eine abgeschiedene Höhle zurück und verschwindet zunächst von der Bildfläche.

Medusa und Perseus

Wir betrachten also den zweiten Mann, der Medusas Schicksal beeinflusst: Perseus. Er ist das Kind des Gottes Zeus und der sterbliche Danae. Bereits bei Medusas Eltern, den Geschwistern Phorkys und Keto, ist aufgefallen, dass die Datingmethoden der griechischen Götter aus heutiger Sicht eher unkonventionell (und illegal) sind. Doch Göttervater Zeus treibt es mal wieder auf die Spitze.
Ein Orakel prophezeit Danaes Vater, Acrisius: Falls Danae einen Sohn gebärt, wird dieser seinen Großvater töten. Um seinem Schicksal zu entgehen, sperrt Acrisius Danae in ein Kellerverlies. Zeus lässt sich davon jedoch nicht zurückhalten, verwandelt sich in Gold und regnet kurzerhand durch Zwischenräume in der Decke des Verlies auf Danae herab. Anatomische Details werden nicht beschrieben, doch Danae ist daraufhin schwanger. Als Acrisius entdeckt, dass Danae einen Sohn, Perseus, geboren hat, steckt er die junge Mutter und ihr Kind in eine hölzerne Kiste, die er auf das Meer hinaus treiben lässt. Die Situation scheint aussichtslos, doch Zeus beschützt Danae und Perseus, sodass sie schließlich eine Küste erreichen, an der sie von einem Fischer gefunden werden. Dieser bringt Danae und Perseus zu seinem Bruder, dem König Polydektes, der sich prompt in Danae verliebt. Um seine Ziele ungestört verfolgen und Danaes ungeteilte Aufmerksamkeit genießen zu können, beauftragt der König den jungen Perseus, den Kopf der Medusa zu erkämpfen.
Perseus begibt sich auf die schwierige Reise, unterstützt durch Athene und Hermes. Durch eine List gerät Perseus an ein Paar geflügelter Sandalen und einen besonderen Rucksack aus Silber und Gold, eigens gefertigt, um besonders mächtige Gegenstände, wie den Kopf der Medusa, zu transportieren. Außerdem kann er die Hadeskappe leihen, die den Träger unsichtbar macht.
Als Perseus Medusas Höhle bestens ausgestattet erreicht, nutzt er die Reflexion seines Schildes, um das Monster mit dem tödlichen Blick nicht direkt ansehen zu müssen, und so der Versteinerung aus dem Weg zu gehen. Schließlich köpft er sie, während sie schläft. Auch dabei unterstützt ihn die Göttin des Krieges, Athene, indem sie seine Bewegungen führt. Auch nach ihrem Tod verlieren Medusas Augen nicht die Fähigkeit, Lebewesen in Stein zu verwandeln. Die mächtige Waffe transportiert Perseus in dem metallenen Rucksack. Einige Autoren berichten, dass Athene Medusas Kopf später als Waffe auf ihrem Brustpanzer trägt.

Medusa und ihr Kopf

Als Sterbliche geboren, wird Medusa unfreiwillig erst zum Monster und dann zur Waffe gemacht. Ob Vergewaltigung oder einvernehmlicher Sex: Nach der Begegnung mit Poseidon in Athenes Tempel, ist Medusa die Leittragende. Sie muss ihr altes Leben hinter sich lassen und wird schlussendlich im Schlaf von Perseus geköpft. Ihr Kopf wird ohne Medusas Zutun zur Waffe entweiht und durch die Welt getragen. Wir sehen eine Frau, die stark auf einzelne Körperteile, ihren Kopf und ihre Haare, reduziert wird, aber woher kommt diese Reduzierung?

Bevor die traurige Lebensgeschichte Medusas erzählt wurde, wurden sie und ihre Schwestern bereits in anderen Geschichten beschrieben: Stheno, Euryale und Medusa wurden als Gorgonen geboren. Schreckliche Wesen mit Schlangenhaaren, Flügeln und versteinerndem Blick – Erinnert Sie das an jemanden? Natalie Haynes mutmaßt in ihrem Buch “Pandoras Jar”, dass Autoren wie Hesiod und Ovid eine Erklärung für die Existenz der schrecklichen Gorgonen finden wollten – vor allem für ihre Körperlosigkeit. Denn erste Darstellungen, die sogenannten „gorgoneia“, die weit vor Medusas Auftritt in der griechischen Mythologie existierten, zeigen ausschließlich ein monströses und angsteinflößendes Gesicht. Sie waren angebracht an Tempeln und auf Kampfausrüstung – eine Art der Abschreckung und gleichzeitig eine Visualisierung der eigenen Ängste.

Aus heutiger Sicht würde man Medusas Geschichte vielleicht als Fanfiction beschreiben. Ein Phänomen, dass es bereits gibt, dessen Herkunft jedoch nicht geklärt ist, interpretiert für eine spannende Geschichte mit Göttern, Helden und letztendlich einem Monster.
Bis heute finden wir Medusas Geschichte in Hollywood- und Actionfilmen, meistens jedoch aus Perseus Perspektive und ohne die tragische Vorgeschichte Medusas. In Filmen wie Clash of Titans oder Percy Jackson ist Medusa wach, bösartig und bereit zum Kampf, bevor Perseus (oder Percy) sie köpft. Außerdem wird Perseus Motiv stark ausgeschmückt. In Clash of Titans zum Beispiel köpft Perseus Medusa, um anschließend die schöne Andromeda zu retten – es ist kein bloßer Gewaltakt mehr, sondern das Verhalten eines hilfsbereiten Helden. Die Hauptfigur ist eindeutig Perseus und Medusas Geschichte tritt in den Hintergrund – sie wird also tatsächlich zu einem eindimensionalen und bösartigen Monster.

Wenn Sie jedoch die mehrdimensionale und ausführliche Geschichte Medusas interessiert, empfehlen wir Ihnen das neue Buch von Natalie Haynes „Stone Blind – Der Blick der Medusa“, das gestern, am 16.02.2023, auf Deutsch erschienen ist.

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