26.01.2024 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Die Ampelparteien haben sich zu letzterem in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet. Es gibt mehrere mögliche Instrumente: Eines wären mehr Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE). Dabei wird ein Tarifvertrag für eine Branche auch für die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in seinem Geltungsbereich verbindlich, nachdem der Bundesarbeitsminister eine AVE ausgesprochen hat. Ein anderes Mittel: Um die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft attraktiver zu machen und so zu einer funktionierenden Tarifautonomie beizutragen, könnten sich die Tarifparteien zudem auf Klauseln einigen, die bestimmte Leistungen ausschließlich für gewerkschaftlich organisierte Beschäftigte vorsehen. Beide Instrumente werden in unterschiedlichem Rahmen bereits praktisch angewandt: Allgemeinverbindlicherklärungen sind in etlichen EU-Nachbarländern weit verbreitet. Und in einzelnen Branchen oder Unternehmen in Deutschland gab oder gibt es tarifvertragliche „Bonusleistungen“ für Gewerkschaftsmitglieder, die mit ihrem Engagement und ihren Beiträgen Tarifabschlüsse erst möglich machen. Beide Ansätze erscheinen sinnvoll – doch schließen sie einander nicht aus? Das untersucht der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Olaf Deinert von der Universität Göttingen in einem aktuellen Rechtsgutachten. Danach sind „konditionierte Allgemeinverbindlicherklärungen“, die beide Instrumente verbinden, grundsätzlich zulässig.
Tarifverträge allgemeinverbindlich zu machen, schütze zwar gegen Unterbietungskonkurrenz und könne Austritten aus Arbeitgeberverbänden vorbeugen, schreibt Deinert in der Studie, die das Hugo-Sinzheimer-Institut (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat. Andererseits sinke aber der Anreiz, einer Gewerkschaft beizutreten, wenn die Ergebnisse von Tarifverhandlungen ohnehin für alle gelten. Dieses Problem ließe sich durch Exklusivvorteile für Gewerkschaftsmitglieder lindern. Beide Elemente könnten sich also „bei geschicktem Einsatz gegenseitig ergänzen“.
Die Möglichkeit der konditionierten Allgemeinverbindlicherklärungen im Tarifvertragsgesetz explizit festzuschreiben, wäre laut dem Gutachten der „rechtssichere Weg“. Grundsätzlich stehe aber auch das geltende Recht einer solchen Konstruktion nicht im Wege. Denkbar wäre zum einen, den persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags, der für allgemeinverbindlich erklärt werden soll, auf Gewerkschaftsmitglieder zu beschränken. In diesem Fall bestehe allerdings die Gefahr, dass Arbeitgeber versuchen, ihren Betrieb möglichst gewerkschaftsfrei zu halten. Um das zu vermeiden, komme es auf die richtige „Dosierung“ der Anreize an.
Dafür geeignet seien Differenzierungsklauseln, die zum Beispiel eine Zulage nur für Organisierte vorsehen, während der Tarifvertrag ansonsten allgemeinverbindlich ist, erklärt der Jurist. Entsprechende Klauseln in klassischen Tarifverträgen habe das Bundesarbeitsgericht (BAG) mehrfach für zulässig erklärt. Allerdings könne der Arbeitgeber nicht daran gehindert werden, die vereinbarten Sonderzahlungen auch den nicht organisierten Beschäftigten zuteilwerden zu lassen. Er sei bloß nicht dazu verpflichtet.
Wirksam garantieren ließen sich exklusive Vorteile mit sogenannten Spannenklauseln, so Deinert. Die Funktionsweise: Wenn der Arbeitgeber diese Vorteile auch denjenigen gewährt, die nicht Mitglied in der Gewerkschaft sind, muss er die Leistung für die Mitglieder um denselben Betrag aufstocken, sodass die Spanne zwischen beiden Gruppen erhalten bleibt. Das BAG habe gegen solche Klauseln zwar rechtliche Bedenken, könne dafür aber keine überzeugenden Argumente liefern, heißt es in dem Gutachten. Der Vorwurf, die Spannenklausel wolle den Nichtorganisierten etwas vorenthalten, gehe am Kern der Sache vorbei. Schließlich dürften diese durchaus weitere Vorteile erhalten, bloß profitierten dann eben auch die Gewerkschaftsmitglieder.
Generell müssten für Allgemeinverbindlicherklärungen – ob konditioniert oder nicht – bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, schreibt der Rechtswissenschaftler. Dazu gehöre neben einem gemeinsamen Antrag der Tarifparteien ein „öffentliches Interesse“. Eine Differenzierungs- oder Spannenklausel wiederum diene dem öffentlichen Interesse an einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Denn zur Überwindung der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten könne ein Tarifvertrag nur beitragen, wenn die Gewerkschaften hinreichend mitgliederstark und damit mächtig sind.
Unüberwindbare verfassungsrechtliche Hürden sieht Deinert dabei nicht. Die sogenannte negative Koalitionsfreiheit stehe Allgemeinverbindlicherklärungen grundsätzlich nicht im Wege: Es gebe zwar ein Recht, Verbänden oder Gewerkschaften fernzubleiben, „ein Recht, nicht durch tarifvertragliche Normen behelligt zu werden, folgt daraus allerdings nicht“. Es ließe sich allenfalls argumentieren, dass der Anreiz zum Beitritt, den Exklusivvorteile für Gewerkschaftsmitglieder verursachen, die negative Koalitionsfreiheit gefährdet. Das Bundesverfassungsgericht halte das aber für unproblematisch, solange nur „ein gewisser Druck“ und kein „Beitrittszwang“ vorliegt. Von einem solchen Zwang wiederum könne bei einfachen Differenzierungsklauseln keine Rede sein, da sie den Arbeitgeber ja nicht daran hindern, auch Nichtorganisierte in den Genuss von tarifvertraglichen Leistungen kommen zu lassen.
Einen „relevanten Beitrittsdruck“ könnten – wenn überhaupt – nur Spannenklauseln bewirken, so der Gutachter. Allerdings ließe sich ein etwaiger Grundrechtseingriff durchaus rechtfertigen, da die konditionierte Allgemeinverbindlicherklärung zu einer funktionsfähigen Tarifautonomie beitragen soll und damit auf einen „gewichtigen Zweck“ abzielt. Der Eingriff dürfe allerdings nicht unverhältnismäßig ausfallen, indem die Spannenklausel zum Beispiel Nichtmitgliedern angemessene Arbeitsbedingungen insgesamt vorenthält. Wann der Beitrittszwang beginnt, lasse sich allgemeingültig schwer beantworten. Sonderleistungen bis zum doppelten Gewerkschaftsbeitrag seien rechtlich jedenfalls „über jeden Zweifel erhaben“.
Mit Blick auf die Vertragsfreiheit stellt Deinert fest, dass Allgemeinverbindlicherklärungen mit Spannenklauseln es zwar nicht organisierten Beschäftigten in der Tat erschweren, bestimmte Inhalte mit dem Arbeitgeber zu vereinbaren. Da es in der Regel um überschaubare finanzielle Vorteile geht, handele es sich aber um einen Eingriff „von geringer Intensität“, der mit Blick auf das „hochrangige verfassungsrechtliche Rechtsgut der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie“ gerechtfertigt ist. Hinzu komme, dass individuell ausgehandelte Vorteile von Spannenklauseln ohnehin nicht betroffen sind, es gehe bei ihnen ausschließlich um Leistungen, die der Arbeitgeber „aufgrund eines generalisierenden Prinzips kollektiv“ erbringt.
Den Gleichheitssatz sieht der Jurist ebenfalls nicht verletzt. Der Arbeitgeber sei prinzipiell nicht verpflichtet, Nichtorganisierten tariflich geregelte Arbeitsbedingungen anzubieten. Die Ungleichbehandlung sei zudem dadurch gerechtfertigt, dass die Mitglieder von Gewerkschaften durch Beitragszahlungen und Engagement zum Ertrag von Kollektivverhandlungen beitragen.
Auch das EU-Recht hat der Autor auf etwaige Fallstricke hin untersucht. Die Entsenderichtlinie etwa verlange die Erstreckung von Entlohnungsbestimmungen auf entsandte Beschäftigte unabhängig vom Arbeitsvertragsstatut. Das spreche aber nicht gegen die konditionierte Allgemeinverbindlicherklärung. Denn dass Nichtmitglieder keine Exklusivleistungen erhalten, liege nicht daran, dass der Tarifvertrag nicht für sie gilt, sondern daran, dass sie die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen. Eventuell problematisch könnte in diesem Zusammenhang nach Einschätzung des Wissenschaftlers sein, dass Entsandte gar nicht in den Genuss von Exklusivleistungen kommen können, weil sie in der Regel nicht Mitglied einer inländischen Gewerkschaft sind. Diese Bedenken ließen sich aber ausräumen, indem die zuständige Gewerkschaft eine zeitlich begrenzte Sondermitgliedschaft für Entsandte ermöglicht – wie es die IG BAU bereits vorgesehen hat.
Dass die Entsenderichtlinie gerichtlich nicht beanstandet wurde, zeige gleichzeitig, dass Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit durch allgemeinverbindliche Tarifverträge im Interesse des Arbeitnehmerschutzes gerechtfertigt sein können, so Deinert. Eine konditionierte Allgemeinverbindlicherklärung wiederum verpflichte Unternehmen zu weniger, weil Nichtorganisierte eben keinen Anspruch auf bestimmte Leistungen haben. Insofern sei der Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit noch geringer.
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