13.11.2024 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Deutsches Institut für Bautechnik.
Schwerpunkte der Forschung waren dabei ein Vergleich der zweiten Generation der Eurocodes zur ersten Generation und die Untersuchung von Nichtlinearitäten im Stahlbau. Last but not least wurde in einer umfassenden Studie das Sicherheitsniveau von Stahlbauten in Deutschland, das sich durch die langjährige Bemessung nach Eurocode eingestellt hat, analysiert und dem Sicherheitsniveau weiterer Bauarten (z.B. Beton, Holz oder Mauerwerk) gegenübergestellt.
Maßgebend für die Bemessung in den Eurocodes ist aktuell – und auch künftig innerhalb der zweiten Generation der Eurocodes – die semiprobabilistische Methode in Anlehnung an die First-Order-Reliability-Methode (FORM). Üblicherweise kann mithilfe einfacher statistischer Parameter (Mittelwert, Standardabweichung bzw. Variationskoeffizient und Verteilungsfunktion) der Sicherheitsindex β bestimmt werden. Dieser steht über die Standardnormalverteilung im direkten Verhältnis zur Versagenswahrscheinlichkeit pf. Diese, als klassisch zu bezeichnende Methode kann anhand einer erprobten Rechenroutine verhältnismäßig einfach abgebildet werden. Bekannt ist jedoch auch, dass sich bei der FORM-Methode Differenzen in den Sicherheitsniveaus verschiedener Bauweisen ergeben. Auch innerhalb einer Bauweise kann es bei Verschiebung des Verhältnisses von variablen Lasten zu Gesamtlasten zu Schwankungen im Sicherheitsniveau kommen.
Um eine Vergleichbarkeit über alle Bauweisen und Lastverhältnisse zu erreichen, wurde Anfang der 2000er Jahre die Methode "CodeCalibration" entwickelt. Sie hat vorläufig keinen Eingang in die Eurocodes gefunden. Auch weil es an einer ausreichenden Begründung des Ansatzes und entsprechenden Forschungsdaten fehlt. Sie wird jedoch in den Normungsgremien vielfach diskutiert. Letztlich wurde beschlossen, eine Adhoc-Gruppe "Reliability" unter dem Dach des für EN 1990 "Grundlagen der Tragwerksplanung" zuständigen SC10 zu gründen, die die Thematik aufarbeitet.
Bei CodeCalibration – kurz CodeCal – wird für Einwirkungen und Widerstände unter Berücksichtigung der Modellunsicherheiten ein mathematisch optimales Set von Teilsicherheitsbeiwerten ermittelt. Mit diesem nimmt die Abweichung der Sicherheitskoeffizienten über das Verhältnis von variabler Last zur Gesamtlast und über alle gewichtet berücksichtigten Bauarten (Beton Stahl, Holz, Mauerwerk etc.) hinweg ein Minimum ein. Bei freier Variation aller Teilsicherheitsbeiwerte auf der Widerstands- und Einwirkungsseite führt die Optimierung zu einer Vielzahl an teilweise deutlich unterschiedlichen Sätzen von Teilsicherheitsbeiwerten, ohne dass das Optimierungsniveau maßgebend verändert wird. Erst bei Vorfestlegung eines Teilsicherheitsbeiwerts, meist γM, führt das Verfahren zu stabilen Ergebnissen.
Die CodeCal-Methode konnte die Forschungsgruppe bei ihren Untersuchungen nicht überzeugen. Bedenken äußern sie insbesondere in Bezug auf die Sensitivität des Verfahrens und seine Komplexität. In Frage steht auch der Mehrwert, der mit der Angleichung der Indizes über alle Bauarten hinweg erzielt werden kann. Für Leichtbauweisen erwarten die Forschenden wirtschaftliche Nachteile, da bei Anwendung der CodeCal die rechnerische Optimierung stark erhöhte Teilsicherheitsbeiwerte für die veränderlichen Lasten ergibt.
Beispielhaft wurden die Bemessungsregeln für Anschlüsse durch das Forscherteam untersucht. Dazu wurde eine umfangreiche Datenbasis experimentell bestimmter Festigkeiten der Stahlsorten, Schweißzusatzwerkstoffe und Schraubenwerkstoffe geschaffen sowie Versuchsergebnisse von geschraubten und geschweißten Verbindungen ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass die neuen Bemessungsgleichungen für Kehlnaht- und Stumpfnahtverbindungen auf der sicheren Seite liegen. Dasselbe lässt sich für geschraubte Verbindungen unter Zugbeanspruchung, Scherbeanspruchung und Lochleibungsverbindungen festhalten, die ebenfalls das erforderliche Zuverlässigkeitsniveau erreichen.
Ein weiteres Kapitel des Forschungsberichts erörtert den Einfluss von nichtlinearen Einflüssen auf die Zuverlässigkeit im Stahlbau. Insbesondere bei Last- und Widerstandsmodellen ergeben sich Modellunsicherheiten, da diese typischerweise nach dem semi-probabilistischen Nachweiskonzept auf ungünstigere Zustände kalibriert werden. Die dadurch vorhandenen versteckten Sicherheiten müssten aus Sicht der Forschenden bei einer Umstellung auf vollprobabilistische Betrachtungen durch eine Verschiebung der Bezugswerte berücksichtigt werden.
Anhand von Laststeigerungsszenarien wurde das nicht-lineare Tragverhalten eines beispielhaften Rahmentragwerks aufgezeigt. Es wurde veranschaulicht, dass das System und dessen Bauteile unterschiedlich sensitiv auf die Steigerung von einzelnen Einwirkungen reagieren. Anhand des Vergleichs von normativen Windlastmodellen mit Daten aus Windkanalversuchen demonstrierte das Forscherteam im Anschluss daran, dass bei der Verwendung der normativen Windlastmodelle signifikante versteckte Sicherheitsreserven resultieren können z.B. bei Hallensystemen.
In einer abschließenden Flächenuntersuchung stellte das Forscherteam den Sicherheitszustand von Stahlbauten in Deutschland auf den Prüfstand. Dafür wurden repräsentative Tragwerke sowie statistische Eingangswerte, Widerstände und Randbedingungen definiert. Auf der Werkstoffseite wurden Angaben der streuenden Eigenschaften heutiger Stähle aus den Hintergrundberichten der zweiten Eurocode-Generation verwendet. Bezüglich der Querschnittsabmessungen von Walzprofilen war im Vorfeld eine ausführliche Datenerhebung erforderlich. Die statistischen Werte der Einwirkungen Wind und Schnee wurden an 17 über Deutschland verteilten Wetterstationen erhoben. Für die Modelle des Eigengewichts und der Nutzlast wurden sinnvolle Annahmen getroffen. Die Einzelergebnisse wurden über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland unter Ansatz verschiedener Wichtungen erhoben, z.B. abhängig von der standortbezogenen Einwohnerdichte.
Auf Grundlage dieser Parameter bestimmten die Forschenden für jede gegebene Kombination der Eingangsparameter mit der Methode FORM den Sicherheitsindex β. Das erfreuliche Ergebnis: Das allgemeine Sicherheitsniveau in Deutschland liegt mit β=4,03 (Querschnittswiderstand für S355) bzw. β=3,93 (Widerstand der Schraubenanschlüsse) über der normativen Zielvorgabe aus dem Eurocode von βtarget=3,8.
Das von der Bauministerkonferenz finanzierte und vom DIBt unterstützte Forschungsvorhaben "Zuverlässigkeit von Stahlbauten in Deutschland" ist insofern wegweisend, als es die fortschreitenden Entwicklungen in der allgemeine Sicherheitstheorie für den Stahlbau analysiert und einordnet. Mit seinen Untersuchungen und Ergebnissen leistet das Projekt einen Beitrag zur Standortbestimmung des Stahlbaus im Rahmen der Zuverlässigkeitstheorie und für die Zukunft des Stahlbaus mit innovativen und sicheren Bauwerken.
DIN EN 1993-1-8:2010-12 Eurocode 3: Bemessung und Konstruktion von Stahlbauten - Teil 1-8: Bemessung von Anschlüssen; Deutsche Fassung EN 1993-1-8:2005 + AC:2009
DIN EN 1993-1-8:2021-03 – Entwurf Eurocode 3: Bemessung und Konstruktion von Stahlbauten - Teil 1-8: Bemessung von Anschlüssen; Deutsche und Englische Fassung prEN 1993-1-8:2021
Bild: Anamul Rezwan (Pexels, Pexels Lizenz)
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